Berlin – Die Behandlung von Menschen mit seltenen Erkrankungen bleibt eine Herausforderung für alle Beteiligten im Gesundheitswesen. Das haben die Vorträge auf dem 10. IGES Innovationskongress in Berlin gezeigt, der sich in diesem Jahr dem Thema Orphan Drugs und seltenen Erkrankungen widmete. Die knapp 150 Teilnehmer diskutierten mit den Referenten dabei die ökonomischen Folgen neuer Medikamente gegen die oft mit großem Leid einhergehenden Krankheiten sowie Fragen der Regulierung, aber auch neue genetische Diagnosemöglichkeiten.
Ausgiebig wurde der Sonderstatus von Orphan Drugs bei der frühen Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) erörtert, wie ihn das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) seit Beginn 2011 vorsieht. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben gilt für sie ein Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt. Lediglich das Ausmaß dieses Zusatznutzens ist für die jeweiligen Patienten nachzuweisen.
Von den bis dato 59 Bewertungen des G-BA waren acht Orphan Drugs, von denen dreien ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen bescheinigt wurde, berichtete Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA. Erklären ließe sich dies unter anderem durch die “dünne Evidenz” meist noch sehr früher Studien, die zum Zeitpunkt der Zulassung zunächst nur vorliegen würden.
Der immer wieder geäußerten Kritik, die Orphan-Drug-Regelung würde ein Anreiz zur Subgruppenbildung sein, erteilte Hecken eine Absage. „Subgruppenbildung ist zielführend, damit wir ressourcenschonend behandeln können. Wenn wir Innovationen bewerten, wollen wir sie denen zukommen lassen, die davon profitieren.“ Dennoch müsse man beobachten, was dabei geschehe. Er verwies dabei auf eine Zunahme der Orphan-Drug-Zulassungen von 36 Prozent im Jahr 2012 bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA.
Dr. Markus Frick, Geschäftsführer beim Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), sieht in der Diskussion über Ausgaben für Orphan Drugs vor allem ein „Preis- statt Kostenthema“, das zudem nur 0,05 Prozent der Patienten betreffe. Bei der Zulassung sehe man inzwischen erste Früchte der bewussten Anreizsetzung zur Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen durch die Europäische Orphan-Drug-Verordnung aus dem Jahr 2000. Er widersprach zudem, Firmen seien versucht, durch „Slicing“ häufiger Erkrankungen den Orphan-Drug-Status zu erreichen, weil dies durch die EMA gezielt ausgeschlossen werde. Europäische Regelungen insbesondere mit Blick auf die Veröffentlichung von Studiendaten legte Dr. Alexander Natz, Geschäftsführer von EUCOPE (European Confederation of Pharmaceutical Entrepreneurs) dar.
Eine Prognose künftiger Kosten durch Orphan Drugs gab Prof. Bertram Häussler, Leiter des IGES Instituts. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben für Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hätte sich zwar zwischen 2003 und 2012 von 0,4 auf 3,2 Prozent verachtfacht, wobei „wahre Orphan Drugs“, etwa gegen Stoffwechselerkrankungen, nur einen Anteil von elf Prozent hätten. Dennoch sei kein unlimitierter Ausgabenanstieg zu erwarten, weil sich nach einigen Jahren die Zahl der behandelten Patienten durch Zu- und Abgänge einpendele.
„Bei einer zu erwartenden Innovationsrate von etwa jährlich sechs neuen Wirkstoffen stabilisieren sich die Ausgaben für Orphan Drugs spätestens nach zehn Jahren bei deutlich unter zehn Prozent der GKV-Arzneimittelausgaben“, sagte Häussler. Er skizierte zudem ein kostenbasiertes Preisbildungsmodell für Orphan Drugs, das als Alternative zur klinischen Nutzenbewertung diskutiert werden könne.
Auf die Risiken einzelner – vor allem kleinerer – Krankenkassen durch die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen wies Dr. Christoph Straub, Vorsitzender des Vorstands der BARMER GEK, hin. „Es ist eine grundsätzlich wünschenswerte Entwicklung für Patienten, dass das Segment der Orphan Drugs so rasch zugenommen hat. Die bestehenden Ausgleichsmechanismen der GKV müssen jedoch weiterentwickelt werden, um eine finanzielle Überbelastung einzelner Kostenträger zu verhindern.“ Er forderte die Wiedereinführung eines begleitenden Hochrisikopools in der GKV. Auch sei die Jahresumsatzgrenze, bis zu der ein Orphan-Drug-Status bei der Nutzenbewertung gelte, von 50 auf 30 Millionen Euro zu senken.
Zahlen zu der immer wieder geforderten stärkeren Förderung der Erforschung seltener Erkrankungen lieferte Dr. Martin Albrecht, Geschäftsführer am IGES Institut. Jährlich stelle der Bund durchschnittlich knapp 42 Millionen Euro dafür bereit. Das seien zwar nur 0,4 Prozent von allem, was insgesamt jährlich in die generelle medizinische Forschung in Deutschland fließe. Bezogen auf die Mittel aus öffentlicher Hand sei dies jedoch mit 2,6 Prozent eine „spürbare“ Größe. „Die Scheinwerfer der öffentlichen Förderung sind zunehmend auf die seltenen Erkrankungen gerichtet.“
Kritisch diskutierte Albrecht verschiedene Ansätze der öffentlichen Förderung bei seltenen Erkrankungen. So entspräche etwa die Unterstützung von Forschungsnetzwerken der enormen Heterogenität dieses Forschungsfeldes. Auch die im Rahmen des Nationalen Aktionsplans des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) vorgesehene bessere Strukturierung der Forschung in nationalen Fachzentren sei für die Versorgung der Patienten gut. Zudem erleichtere dies die Rekrutierung von Patienten für Studien und die Gewinnung von Daten. Allerdings sei Skepsis angezeigt bei der Frage, wer den Forschungsbedarf definiere.
Chancen für die Betroffenen in den nationalen Fachzentren sieht auch Dr. Christine Mundlos, „ACHSE Lotse an der Charité“ für die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. „Die Zentren werden die Aufmerksamkeit für seltene Krankheiten weiter erhöhen.“ Auch werde sich die Diagnosefindung mit der Zentrenbildung verkürzen. Nun gelte es, die Zentren sinnvoll zu gestalten, wobei sich auch die bereits rund zehn bestehenden Zentren einer Zertifizierung unterziehen müssten. Kritisch merkte sie an, dass für die Umsetzung des Nationalplans kein Budget ausgewiesen wurde.
Die verschiedenen Ansätze der therapeutischen Möglichkeiten bei seltenen Erkrankungen stellte Prof. Michael Beck, Leiter der Arbeitsgemeinschaft für lysosomale Speicherkrankheiten (Villa Metabolica) am Zentrum für Kinderheilkunde der Universitätsmedizin Mainz, vor. Dazu gehörten diätetische Maßnahmen, Enzymersatztherapien oder Gentherapien, von denen in Europa bisher nur eine bei einer bestimmten Enzymmangelerkrankung zugelassen sei. Auch Beck sieht, dass es seit der Orphan-Drug-Regulierung mehr Forschung und vor allem auch kleinere Firmen gebe, die sich seltenen Erkrankungen widmen. Um Forschungskosten zu senken und die fehlende statistische Kraft der Studien mit nur wenigen Patienten zu kompensieren, plädierte er dafür, ähnlich wie in der HIV-Forschung verstärkt auch Surrogatparameter in die Auswertungen einzubeziehen.
Prof. Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen, erörterte die Chancen und Herausforderungen neuer molekulardiagnostischer Methoden, wie die neuen Sequenziertechnologien (Next Generation Sequenzing, NGS), bei der Suche nach den genetischen Ursachen seltener Erkrankungen. NGS ermöglichten eine schnelle Diagnosefindung, ein besseres Krankheitsmanagement und seien meist preiswerter als mehrere „klassische“ genetische Untersuchungen. Sie seien „kein Luxus“, auch wenn vielfach die Kostenübernahme dafür abgelehnt werde. „Patienten mit seltenen Erkrankungen wie auch mit unklarer Diagnose haben dasselbe Recht auf eine korrekte Diagnose wie Patienten mit häufigen Erkrankungen“, betonte Rieß.
Der vom IGES Institut ausgerichtete Innovationskongress versteht sich als Forum für Fragen zur künftigen Gestaltung des Gesundheitswesens. Die Teilnehmer kommen aus allen wissenschaftlichen, politischen und praktischen Bereichen des Gesundheitssystems. Die Vorträge können im Internet unter www.iges.de/kongressprogramm herunter geladen werden.
Über das IGES Institut: Forschen – Entwickeln – Beraten für Infrastruktur und Gesundheit
Das IGES Institut wurde 1980 als unabhängiges Institut gegründet. Seither wurde in über 1.000 Projekten zu Fragen des Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzierung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich der Gesundheit gearbeitet. In jüngerer Zeit wurde das Spektrum auf weitere Gebiete der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeweitet: Mobilität und Bildung. Das IGES Institut gründet seine Arbeit auf hohe Sach- und Methodenkompetenz und bietet in allen Arbeitsgebieten einen breiten Zugang zu eigenen und zu Datenquellen anderer Institutionen. Gemeinsam mit den Unternehmen CSG und IMC (beide Berlin) sowie HealthEcon (Basel) beschäftigt die IGES Gruppe mehr als 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.