Expertinnen und Experten fordern beim AOK-Tag in Kiel: Einheitliche Ersteinschätzung und bessere Patientensteuerung im Notfall
Kiel – Die Modernisierung der Krankenhauslandschaft und der Notfallversorgung müssen künftig gut aufeinander abgestimmt werden. Ziel ist vor allem eine bessere Patientensteuerung. Das war der Tenor der Expertinnen und Experten auf dem heutigen AOK-Tag der Selbstverwaltung in Kiel. „Hilfesuchende müssen künftig schnell und verlässlich an die richtige Stelle im Versorgungssystem gelangen. Dafür braucht es klare Abläufe, einheitliche Ersteinschätzungen und eine stärkere Vernetzung aller beteiligten Akteure. Integrierte Notfallzentren (INZ), die an Krankenhausträger angedockt und mithilfe der Kassenärztlichen Vereinigungen betrieben werden, wären ein wichtiger Baustein“, sagte AOK-Vorstandsvorsitzender Tom Ackermann.
Gesundheitsministerin von der Decken: „Verlässliche Strukturen schaffen“
Landes-Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken kündigte an, die Chancen, die die Krankenhausstrukturreform für die Weiterentwicklung der stationären Versorgung bietet, ausschöpfen zu wollen. Zudem solle auch die Notfallversorgung konsequent an den sich veränderten Bedarf der Bürgerinnen und Bürger angepasst werden. „Unsere Planung berücksichtigt neben den regionalen Besonderheiten auch die Stärken einzelner Standorte. Dadurch schaffen wir verlässliche Strukturen, die medizinische Qualität, Erreichbarkeit und Wirtschaftlichkeit vereinen und die Versorgung auch künftig sicherstellen”, sagte die Ministerin.
Nicht jeder Akutfall ist ein Notfall
In deutschen Notaufnahmen und den Notfallambulanzen der Kliniken herrschen häufig großer Andrang. Doch nicht jeder Akutfall ist ein echter medizinischer Notfall. Viele Menschen suchen dort Hilfe, obwohl sie an anderer Stelle besser und schneller versorgt werden könnten. Das belastet Rettungsdienste und Krankenhäuser und erschwert eine angemessene Versorgung der wirklich dringenden Fälle. Wie hoch der Handlungsbedarf ist, zeigt auch eine aktuelle forsa-Umfrage in Schleswig-Holstein im Auftrag der AOK NordWest. Danach gaben 36 Prozent der Menschen an, in den vergangenen fünf Jahren die Notaufnahme einer Klinik aufgesucht zu haben ohne vorherige Ersteinschätzung durch eine kompetente Stelle. Und weiter offenbart die Umfrage: Viele Menschen wissen nicht, ob sie im Notfall nun bei der 112, der 116 117 oder direkt in einer Klinik anrufen sollen.
Kostenexplosion eindämmen – Vorschläge liegen auf dem Tisch
Einen dringenden Appell an die Politik, notwendige Reformen umgehend anzugehen, richtete Prof. Dr. Christian Karagiannidis von der Universität Witten-Herdecke: „Wir stehen 2025 an dem Punkt, dass die extrem gestiegenen und hohen Ausgaben im Gesundheitswesen gesamtgesellschaftlich und wirtschaftlich kaum noch tragfähig sind. Die Qualität der medizinischen Versorgung hingegen hat sich in den letzten Jahren kaum verbessert. Eine wirksame Notfall- und Rettungsdienstreform mit einer digitalen Steuerung des Patienten durch das System gehört zu den wenigen Akutmaßnahmen, die helfen kann, die Versorgung zu verbessern und gleichzeitig die Kostenexplosion zumindest in Teilen einzudämmen. Es besteht keine Zeit mehr, um auf Ergebnisse einer Kommission zu warten. Die Vorschläge liegen alle auf dem Tisch.”
„Keine weichgespülten Kompromisse“
Auch Johannes Heß, alternierender AOK-Verwaltungsratsvorsitzender und Arbeitgebervertreter forderte eine rasche und konsequente Umsetzung der Klinik- und Notfallreformen. „Es muss endlich ein Ende der politisch weichgespülten Kompromisse oder Reförmchen haben, die nur an Symptomen herumdoktern. Wir benötigen eine echte Planungsverantwortung der Länder. Die Patientensteuerung muss modern und effizient organisiert sein. Und die Finanzierung muss sich am tatsächlichen Bedarf und an der Qualität orientieren – nicht an alten Strukturen oder überholten Ansprüchen“, so Heß. Dabei gehe es nicht nur um Strukturen, sondern auch um Menschen. „Der bestehende Fachkräftemangel in der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Menschen kann nicht allein mit mehr Geld oder kleinen Anpassungen gelöst werden. Wir brauchen Reformen, die den Beruf attraktiver machen, die Ressourcen effizienter bündeln und die Patientinnen und Patienten besser steuern“, so Heß.
Steuerungselemente ohne Arztkontakte schaffen
Dr. Bettina Schultz (KVSH-Vorstandsvorsitzende) betonte, dass es in Zeiten des Fachkräftemangels eine gute Steuerung von Patientinnen und Patienten geben müsse. „Digitale Selbsteinschätzungstools wie ‚SmED Patient‘ oder die 116 117 können helfen, Patientinnen und Patienten frühzeitig in die medizinisch richtige Versorgungsebene zu leiten. So lassen sich unnötige Zusatzkontakte vermeiden und Notfalltermine tatsächlich für echte Notfälle sichern. Gleichzeitig bleibt es wichtig, dass Patientinnen und Patienten mit klaren Verletzungen ohne Umwege in die passende Praxis oder Notaufnahme gelangen. „Schon heute sehen wir, dass dort, wo ein gemeinsamer Tresen der Notaufnahme mit der Kassenärztlichen Anlaufpraxis vorhanden ist, fußläufige Patienten problemlos in die medizinisch richtige Versorgungsebene gesteuert werden können. Bei Bedarf sollten zudem auch zeitnah Praxistermine vermittelt werden können“, so Dr. Schultz.
Zielgerichtete Patientensteuerung mit angemessener Finanzierung
Patrick Reimund, Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft Schleswig-Holstein betonte: „Für viele Menschen ist es heute selbstverständlich, bei akuten Problemen außerhalb der Sprechstunden von Arztpraxen ein Krankenhaus aufzusuchen – zunehmend auch während der Sprechzeiten. Eine gute und erreichbare Notfallversorgung ist damit am besten in kooperativ betriebenen Integrierten Notfallzentren (INZ) in Krankenhäusern aufgehoben. Zur Reform muss aber auch gehören, dass durch eine zielgerichtete zentrale Patientensteuerung nur solche Menschen die INZ an den Krankenhäusern in Anspruch nehmen, die diese auch tatsächlich benötigen. Dazu muss die Notfallversorgung ihren Aufgaben entsprechend angemessen finanziert werden.”
Ohne Rettungsdienstreform bald bis zu 400.000 Alarmierungen
Wie dringend eine Rettungsdienstreform benötigt werde, unterstrich auch Jan Osnabrügge, stellvertretender Geschäftsführer der Rettungsdienst-Kooperation in Schleswig-Holstein (RKiSH) gGmbH: „Die stetig steigenden Einsatzzahlen bringen die Rettungsdienste an ihre Leistungsgrenzen. Wenn sich der Trend fortsetzt und sich die heutigen Rahmenbedingungen nicht ändern, ist bis 2040 allein in den fünf Kreisen, die die RKiSH versorgt, mit bis zu 400.000 Alarmierungen jährlich zu rechnen, in 2023 waren es noch 248.000 Einsätze. Für eine zielgerichtete Steuerung sind belastbare und leistungsfähige Strukturen aller beteiligten Einrichtungen und Stellen erforderlich. Dabei unterstützen wir eine bundesweit einheitliche Schutzzieldefinition und einheitliche Qualitätsdefinitionen für einen leistungsfähigen Rettungsdienst für Menschen in lebensbedrohlichen Notfallsituationen.“
Telenotarzt-System bietet niedrigschwellige Unterstützung
Von einer innovativen Option in Schleswig-Holstein berichtete Dr. Niels Renzing, stellvertretender ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Kiel und Organisator des Telemedizinsystems Schleswig-Holstein Ost. „Acht Rettungsdienste im Land haben sich zu einem gemeinsam betriebenen Telenotarzt-System zusammengeschlossen, das im Mai 2025 in den 24/7-Betrieb gestartet ist. Bei Notfalleinsätzen, bei denen das Rettungsfachpersonal vor Ort ärztliche Unterstützung, nicht aber ärztliche Tätigkeiten benötigt, können Telenotärztinnen und -ärzte (TNÄ) zum Einsatz kommen. TNÄ werden bei Bedarf ohne Verzögerung über Mobilfunk zugeschaltet und stellen so eine niedrigschwellige, umgehend verfügbare Unterstützung der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter dar.
Reform muss sich am tatsächlichen Bedarf der Menschen orientieren
Der alternierende AOK-Verwaltungsratsvorsitzende und Versichertenvertreter Lutz Schäffer resümierte am Ende der Veranstaltung, dass die vielen guten Ideen nicht nur umgesetzt, sondern auch miteinander verzahnt werden müssten. Nur so entstehe für die Patientinnen und Patienten auch ein konkreter Nutzen. Ansonsten bliebe das Gefühl, sich durch ein unübersichtliches Labyrinth kämpfen zu müssen. „Wir brauchen ein System, das die Menschen leitet – nicht eines, das sie überfordert“, so Schäffer.