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Vanessa Low eine der Medaillenhoffnungen
Vanessa Low Copyright: DBS

Vanessa Low eine der Medaillenhoffnungen

“Gewonnen wird im Kopf”

Frechen – Vanessa Low ist eine der aktuell erfolgreichsten deutschen Behindertensportlerinnen und eine der Medaillenhoffnungen bei den Paralympischen Spielen in London.

Vor sechs Jahren wurde die damalige Schülerin in ihrer norddeutschen Heimat Ratzeburg von einem Zug erfasst. Die Ärzte mussten beide Beine bis zum Oberschenkel amputieren. Zwei Monate lang lag sie im Koma, fünf Monate im Krankenhaus. Dort beschloss sie, weiter Sport zu treiben und entschied sich für die Leichtathletik. Bis heute mit großem Erfolg. Seit 2009 startet die angehende Mediendesignerin für Bayer Leverkusen und wohnt im Rheinland.

Immer wieder durchlebt die 21-jährige Vanessa Low ihren ersten Wettkampftag. Ihre Trainerin Steffi Nerius, Speerwurf-Weltmeisterin, brachte ihr bei: „Gewonnen wird im Kopf.“ Im Trainingslager Anfang Mai im portugiesischen Monte Gordo haben sie erstmals mit einem Mentalcoach zusammengearbeitet, Tanja Damaske aus Berlin, früher ebenfalls eine erfolgreiche Speerwerferin. Im ersten Wettkampf nach dem Trainingslager ist Vanessa Low in Leverkusen 4,21m weit gesprungen. Bestleistung, inoffizieller Weltrekord. Im Training kam sie sogar schon weiter. „Wenn ich überlege, dass ich erst im vierten Jahr springe, dann ist da sicher noch Potenzial“, schätzt sie ihr Leistungsvermögen ein.

Bei ihrem ersten Erfolg in Bangalore 2009 hatte sie noch steife Prothesen. Danach bekam sie Prothesen mit Kniegelenk. Es braucht zwar einige Zeit, um sie beherrschen, und erst jetzt ist sie wieder so schnell wie damals. Aber beim Weitsprung ist das Kniegelenk zentral. „Richtig interessant könnte es für mich werden, wenn eines Tages jemand ein künstliches Kniegelenk erfindet, das nahe am menschlichen Leistungsvermögen ist. Dann könnte ich mit den Unterschenkelamputierten mithalten“, denkt Vanessa Low. Sie weiß: „Man muss die Federn der Prothese beherrschen, denn jeder Fehltritt wird bestraft.“ Da sie eine der wenigen Doppel-Oberschenkelamputierten ist, sind bei ihr mit zwei Federn die Fehlerquellen umso größer. „Die Federn dürfen den Oberkörper-Schwerpunkt nicht zu weit nach vorne drücken, dann kann ich die Balance nicht halten.“ Es ist also eine Frage der Dosierung und der Technik.

Die Anteile sportlichen Erfolgs schätzt sie so ein: 20 bis 30 Prozent Talent, 60 Prozent Training – und 10 bis 20 Prozent Material. Jeder dieser Anteile ist entscheidend. Und günstig wirken sich für Vanessa Low die Punktwertung und die Schadensklassen bei den Frauen-Wettbewerben aus: Sie muss ungefähr einen halben Meter weniger springen, um auf die gleiche Punktzahl zu kommen wie eine Unterschenkelamputierte.

Die Entwicklung im Hochleistungssport ist auch bei den Athleten mit Behinderungen rasant. So ist die heutige Qualifikationsnorm von 3,40m vor vier Jahren noch fast Weltrekord gewesen. “Ich halte für denkbar, dass wir bald 4,50 m für eine Medaille springen müssen. Das liegt zum einen an der Entwicklung von Technik und Material. Zum anderen merken alle Sportler, dass es mit richtig hartem und intensivem Training viel zu gewinnen gibt. Die Konkurrenz nimmt deutlich zu. Es wird also immer schwerer, sich für Olympia zu qualifizieren.“

Wichtigste Berater und Betreuer sind ihre Eltern. Mutter Silvia ist immer dabei, Vater André hat alle Zahlen und Wettkampftermine im Kopf. Die beiden Schwestern Cynthia und Olivia werden die Paralympics, besonders natürlich den Frauen-Weitsprung, am Fernseher verfolgen. Als Vorbilder nennt sie Katy Sullivan und Cameron Clapp. „Deren Lebensmut hat mir Kraft gegeben, von Anfang an. Cameron ist nach einem Zugunfall dreifach amputiert. Katy hat das gleiche Handicap wie ich.“ Sie ist also ihre direkte Konkurrentin, „ist das nicht fantastisch?“

Bei den Paralympics wünscht sich Vanessa Low nicht nur einen Medaillenplatz. Sie hofft, „dass der Behindertensport mehr beachtet wird, nicht nur für ein paar Tage, sondern dauerhaft“. Und dass sich bei vielen Menschen und Institutionen durch die zunehmende Berichterstattung die Einstellung gegenüber dem Behindertensport grundlegend verändert. Ein Beispiel aus eigenem Erleben: „Meine Krankenkasse hat mir damals die Bezahlung meiner Sportprothese mit der Begründung abgelehnt, dass es kein Grundbedürfnis auf ein sportliches Leben gäbe. Das hat mich empört.“ Und viele Eltern wollten nicht wahrhaben, dass ihre Kinder behindert sind. „Das ist bedauerlich“, findet sie, „denn sie nehmen ihnen damit die Chance, sich auf Augenhöhe sportlich zu messen anstatt hinterher zu laufen“.

Am 18. März 2012 war Vanessa Low Mitglied der Bundesversammlung, die in Berlin den Bundespräsidenten wählte. Zur Eröffnung der Paralympics am 29. August in London wird sie Joachim Gauck wieder treffen. Von ihm erwartet sie, dass er sich für den Wert des Behindertensports in der Gesellschaft einsetzt. „Denn es muss sich noch einiges grundlegend ändern.“